ClientEarth
26. September 2022
Was tun, wenn die Wissenschaft feststellt, dass die Luft, die wir einatmen, viel gefährlicher ist als bisher angenommen – die Regierung aber nichts unternimmt?
Sieben Betroffene aus mehreren deutschen Großstädten sehen die Antwort darin, die Bundesregierung nach Karlsruhe zu zitieren.
Eltern und Kinder, von denen einige an Asthma und Atemwegserkrankungen leiden, kämpfen darum, dass das Recht auf saubere Luft rechtlich verankert wird. Sie haben nun vor dem Bundesverfassungsgericht Klage eingereicht.
Im vergangenen Jahr haben führende Expert*innen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Empfehlungen mit neuen Grenzwerten für Luftverschmutzung vorgelegt, die zum Wohle der Gesundheit der Betroffenen nicht überschritten werden sollten.
Damit wurden die zuvor als akzeptabel geltenden Werte für Feinstaub (PM2,5) um die Hälfte und für Stickstoffdioxid (NO2) um 75% gesenkt.
In zahlreichen Städten in der gesamten EU gab es in der Vergangenheit Probleme mit der konsequenten Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte. Konsequenter Druck auf Entscheidungsträger*innen, wegweisende Gerichtsverfahren und die Modernisierung der Mobilität haben aber vielerorts zu deutlichen Verbesserungen geführt.
Doch während viele Städte heute Schadstoffwerte verzeichnen, die gesetzlich zulässig sind, sprechen die WHO-Grenzwerte eine andere Sprache. Auch wenn in Deutschland die geltenden Gesetze eingehalten werden, gefährdet die Luft in den Städten nach den heutigen Erkenntnissen der Wissenschaft immer noch die Gesundheit der Menschen.
Die Kläger*innen wohnen in großen deutschen Städten, wie Berlin, Frankfurt am Main, Düsseldorf und München. Die Messstationen in diesen Städten verzeichnen eine Luftverschmutzung, die technisch gesehen rechtskonform sein mag, aber dennoch oft mehr als um das Doppelte über die von der WHO für 2021 festgelegten Grenzwerte liegt.
"Luftverschmutzung ist etwas, das alle und jeden Tag betrifft" - Volker aus München
Nach aktuellen Erkenntnissen kann Luftverschmutzung zu Schlaganfällen, Krebs, Bronchitis und bei Erwachsenen zu Asthma führen sowie mit Demenz und Konzentrationsproblemen in Verbindung gebracht werden. Angesichts dieser alarmierenden Auswirkungen sollte es für die Politik eine Selbstverständlichkeit sein, gegen die nun als bedenklich eingestuften Werte vorzugehen.
Klägerin Saskia aus Berlin sagt: "Als Hebamme sehe ich, dass viele Kleinkinder krank werden und Probleme mit den oberen Atemwegen oder in der Lunge bekommen. Immer mehr atmen schwer, entwickeln Atemgeräusche und viele müssen bereits in frühestem Alter starke Medikamente bekommen.
"Ich habe drei Kinder. Meine dreijährige Tochter geht in den Kindergarten und hustet die ganze Zeit – ich selbst muss viermal am Tag über die Straße gehen, und das stresst mich sehr".
"Wir haben ein Recht auf saubere Luft, genauso wie wir ein Recht auf sauberes Trinkwasser haben" - Georg aus Berlin
In dieser Klage, die von sieben Einzelpersonen eingereicht und von den Organisationen ClientEarth und Deutsche Umwelthilfe (DUH) unterstützt wurde, wird zum ersten Mal mit Menschenrechten argumentiert.
In Deutschland sind im Grundgesetz die Grundrechte der Menschen in diesem Land niederlegt. Die Regierung hat auch Rechtsvereinbarungen unterzeichnet, darunter die EU-Grundrechtecharta, die sie unter anderem dazu verpflichtet, die körperliche Unversehrtheit der Menschen zu gewährleisten. Das bedeutet, dass die Menschen ein Recht auf eine gesunde Umwelt haben. Dazu gehört unserer Meinung nach auch saubere, gesunde Luft.
"Wir leben in einer Welt, in der Verkehr und Industrie mehr Rechte zu haben scheinen als die Menschen selbst" - Irmina Kotiuk, Juristin bei ClientEarth
Die Luftqualität wird in der gesamten EU durch ein zentrales Gesetz geregelt - die Richtlinie über die Luftqualität und saubere Luft in Europa. Darin sind die Höchstwerte für die Luftverschmutzung für eine Reihe von Schadstoffen festgelegt, von denen bekannt ist, dass sie der menschlichen Gesundheit schaden.
Jahrelang haben Länder in der gesamten EU die in der Luftqualitätsrichtlinie festgelegten Grenzwerte eklatant verletzt. Dagegen sind Organisationen wie ClientEarth und die DUH in einer Reihe von Gerichtsverfahren vorgegangen.
Die neuen Enthüllungen der WHO bedeuten jedoch, dass die für diesen Herbst vorgesehene Überarbeitung der Luftqualitätsrichtlinie substanzielle Änderungen beinhalten muss.
Länder wie Deutschland, die die derzeitige Luftqualitätsrichtlinie im Großen und Ganzen einhalten, müssen eine neue, strengere Richtlinie unterstützen, die der Wissenschaft folgt und die Gesundheit der Menschen wirklich schützen kann.
Irmina Kotiuk, Grundrechtsanwältin bei ClientEarth, die an der Vorbereitung des Falles mitgewirkt hat, sagt dazu: "Es hat immer eine eklatante Verzögerung gegeben, wenn es darum ging, dass EU-Länder die Gesetze zur Luftverschmutzung einhalten - sie müssen jetzt handeln, um zu verhindern, dass noch mehr Menschenleben unnötig zerstört werden und noch mehr Kinder ein Leben lang das Erbe der schmutzigen Luft tragen."
Die Umweltorganisationen ClientEarth und Deutsche Umwelthilfe sind stolz darauf, die Kläger*innen bei dieser Klage unterstützen zu dürfen.