Pressemitteilung: 15. November 2023
Gericht lässt sich bei Abweisung der Klage gegen Shell-Vorstand nicht auf wichtige Argumente zum Klimarisiko ein
„Fehlgeleitete" Ablehnung einer wegweisenden Klage als verpasste Chance, das englische Unternehmensrecht in der Klimakrise zu klären
LONDON - Das Berufungsgericht hat es abgelehnt, die historische Klage von ClientEarth gegen den Vorstand von Shell zu verhandeln - die weltweit erste Klage, die darauf ausgerichtet ist, den Vorstand persönlich für das Missmanagement von Klimarisiken haftbar zu machen.
In der Klage von ClientEarth wurde argumentiert, dass der Vorstand seine gesellschaftsrechtlichen Pflichten verletzt habe, indem er es versäumt habe, die Klimarisiken, denen Shell gegenübersteht, ordnungsgemäß zu managen und damit die langfristige Rentabilität des Unternehmens zu gefährden. Der High Court of England and Wales wies die Klage Anfang dieses Jahres ohne Prüfung der inhaltlichen Beschwerden ab, wogegen ClientEarth Berufung einlegte.
Paul Benson, leitender Anwalt von ClientEarth, kommentierte die Entscheidung mit den Worten: „Wir sind zutiefst enttäuscht über diese Entscheidung, die wir für falsch und fehlgeleitet halten." Das Gericht hat eine entscheidende Gelegenheit verpasst, sich mit dem Ausmaß der Klimakrise auseinanderzusetzen und die gesetzlichen Pflichten von Geschäftsführenden angesichts der erheblichen Risiken, die sie für Unternehmen und deren Wert darstellt, zu klären.
„Es ist erstaunlich, dass sich das Gericht geweigert hat, sich mit den detaillierten Beweisen für die Versäumnisse des Vorstands auseinanderzusetzen und die Unterstützung von großen institutionellen Kapitalanlegenden, die mehr als 12 Millionen Aktien des Unternehmens halten, einfach abgetan hat.”
„Zweifellos wird Shell sagen, dass diese Entscheidung den Kurs des Vorstands rechtfertigt. In Wirklichkeit hat das Gericht Shell einen Freifahrtschein ausgestellt, da es sich weder mit den Problemen auseinandergesetzt noch unsere Berufung berücksichtigt hat.”
„Dennoch sollten Geschäftsführende nicht aufatmen. Das Gericht hat bestätigt, dass Unternehmensvorstände die Pflicht haben, das Klimarisiko zu managen, was an sich schon wichtig ist. Auch wenn diese Klage die verfahrensrechtlichen Hürden nicht genommen hat, ist das rechtliche Risiko für Vorstände nach wie vor sehr real. Das gilt auch für die rasch eskalierende Bedrohung, die die Klimakrise und die Energiewende für alle großen fossilen Unternehmen darstellen."
„Angesichts des Ausmaßes des Klimarisikos, mit dem die Unternehmen konfrontiert sind, und der Tatsache, dass das Gericht die Wesentlichkeit des Klimawandels für die Ölgesellschaften anerkennt, ist es unvermeidlich, dass Vorstände bei einem Missmanagement haftbar gemacht werden. Wenn nicht heute, dann in Zukunft".
ClientEarth hat die Klage in seiner Eigenschaft als Aktionär eingereicht und wurde von der Londoner Kanzlei Pallas Partners vertreten. In der Klage wird den elf Vorstandsmitgliedern von Shell vorgeworfen, gegen ihre gesetzlichen Pflichten gemäß dem Unternehmensgesetz verstoßen zu haben. Sie haben entgegen ihrer erklärten Ziele keine Strategie zur Energiewende angenommen und umgesetzt, die mit dem Pariser Abkommen in Einklang steht.
Benson fügte hinzu: „Wir lassen uns von dieser Entscheidung nicht entmutigen und werden weiterhin für die Verantwortlichkeit derjenigen kämpfen, die Unternehmen vorstehen und sie weiter in die Klimakatastrophe steuern. Es sind Unternehmen wie Shell, die dem Klimarisiko am stärksten ausgesetzt sind und die am meisten zu verlieren haben, wenn ihre Vorstände kurzfristige Gewinne über langfristigen Wohlstand stellen."
Zu den verfahrensrechtlichen Einwänden des Gerichts gehörte die Auffassung, dass ClientEarth als Umweltrechtsorganisation nicht im besten Interesse des Unternehmens handeln könne. ClientEarth ist der Ansicht, dass die Justiz damit eine Chance verpasst hat, das Gesetz so auszulegen, dass die Schwere und Dringlichkeit des Klimarisikos berücksichtigt wird. In diesem Verfahren wurden die Interessen des Unternehmens und seiner Aktionäre mit denen des Planeten in Einklang gebracht.
Benson sagte: „Einer der oft angepriesenen Vorteile unseres Rechtssystems ist seine Beweglichkeit und Flexibilität bei der Reaktion auf die kritischen Themen unserer Zeit. Gerichte können den wichtigen Fragen, die der Klimawandel für die traditionellen Rechtskonventionen aufwirft, nicht ausweichen. Es ist zwingend erforderlich, dass sich Richter aller Fachrichtungen mit der Klimawissenschaft auseinandersetzen und wissen, was die Realitäten für Unternehmen, die Wirtschaft und die Gesellschaft im Allgemeinen bedeuten.
„Es war immer klar, dass Vorstände einen großen Handlungsspielraum haben, und das ist auch richtig so. Aber dieser Handlungsspielraum hat Grenzen, und das Gesetz muss es ermöglichen, dass Vorstände zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn ihre Handlungen den seismischen Risiken zuwiderlaufen.
„Keines der beiden Gerichtsurteile befasste sich mit der entscheidenden Frage des Klimarisikomanagements des Vorstands. Shell hat sich damit einer rechtlichen Überprüfung seiner Strategie entzogen."
Fehlerhafte Übergangsstrategie
Die Klage von ClientEarth wurde von institutionellen Investor*innen unterstützt, die mehr als 12 Millionen Aktien des Unternehmens halten und ein Gesamtvermögen von mehr als einer halben Billion US-Dollar (450 Milliarden Pfund) verwalten. Alle diese Investor*innen erklärten, dass die Klage in ihrem besten Interesse als Aktionär*innen sei.
Der Shell-Vorstand behauptet, dass seine „Energy Transition Strategy", einschließlich des Plans, bis 2050 ein emissionsfreies Unternehmen zu werden, mit dem 1,5-Grad Ziel des Pariser Abkommens vereinbar ist. Führende Bewertungen Dritter haben jedoch ergeben, dass dies nicht der Fall ist. Insbesondere schließt die Strategie kurz- bis mittelfristige Ziele zur Senkung der Emissionen aus den von Shell verkauften Produkten – bekannt als Scope-3-Emissionen – aus, obwohl diese mehr als 90 Prozent der Gesamtemissionen des Unternehmens ausmachen. Die Nettoemissionen des Konzerns sollten bis 2030 nur um 5 Prozent sinken. Das ist weit von der im Mai 2021 von einem niederländischen Gericht angeordneten Netto-Reduzierung der konzernweiten Emissionen um 45 Prozent bis zum Ende dieses Jahrzehnts entfernt ist. ClientEarth warf Shell vor, dass die Nichteinhaltung des Urteils des niederländischen Gerichts durch die Vorstandsmitglieder auch einen Verstoß gegen seine gesetzlichen Pflichten darstelle. Shell hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt.
Der britische Pensionsfonds London CIV gehörte zu den institutionellen Anlegenden, die den Fall unterstützten. Die Leiterin der Abteilung für Nachhaltigkeit, Jacqueline Amy Jackson, sagte: „Dies ist nicht nur ein Problem für Shell. Während die Klimarisiken für Öl- und Gasinvestitionen zunehmen, erstreckt sich dieses Problem auf viele weitere Unternehmen in einer Vielzahl von Sektoren. Eines ist ganz klar: Wenn die Klimaziele nicht erreicht werden und die Emissionen zunehmen, hat dies weitreichende Auswirkungen auf die weltweite Artenvielfalt und das BIP. Dies lässt Zweifel an der langfristigen Rentabilität von Unternehmen aufkommen, die oft als 'sichere' (und daher rentable) Investitionen in allen Sektoren gelten."
Seit der Einreichung der Klage durch ClientEarth hat der Shell-Vorstand seine Übergangsstrategie weiter abgeschwächt, indem er die Ziele für die Reduzierung der Ölproduktion aufgegeben und die Investitionen in erneuerbare Energien gekürzt hat - ein Schritt, der sowohl bei den eigenen Mitarbeitenden als auch bei den Kapitalanlegenden auf Kritik gestoßen ist und Großaktionäre wie die Church of England Pensions Board veranlasst hat, sich von dem Unternehmen zu trennen.
Benson fügte hinzu: „Wir bleiben bei der Kernaussage unseres Falles: Shell richtet seine Geschäftspläne nicht auf eine Net-Zero-Zukunft aus."
ENDE
Hinweise an die Redaktion:
In der von ClientEarth eingereichten Klage wurde geltend gemacht, dass der Shell-Vorstand gegen Abschnitt 172 des englischen Company Acts verstoßen habe, wonach die Vorstände eines Unternehmens verpflichtet sind, so zu handeln, dass sie den Erfolg des Unternehmens zum Wohle seiner Mitglieder als Ganzes am besten fördern können. Außerdem wurde ein Verstoß gegen Abschnitt 174 des Gesetzes geltend gemacht, der die Vorstände dazu verpflichtet, bei der Erfüllung ihrer Pflichten angemessene Sorgfalt, Geschicklichkeit und Gewissenhaftigkeit walten zu lassen.
In der Klage wurde behauptet, dass das Versäumnis des Vorstands, eine Übergangsstrategie zu verabschieden, die wirklich mit dem Pariser Abkommen übereinstimmt, angesichts des erheblichen finanziellen Risikos durch den Klimawandel, einen Verstoß gegen diese Pflichten darstellt.
In einer aktuellen Analyse von Fitch Ratings wurde davor gewarnt, dass Öl- und Gasunternehmen aufgrund der "erhöhten" Klimaanfälligkeit des Sektors in den nächsten zehn Jahren eine Ära von Kreditherabstufungen bevorstehen könnte.
Das Berufungsgericht verweigerte die Zulassung der Berufung aus weitgehend verfahrenstechnischen Gründen (u. a. weil ClientEarth nur ein sehr kleiner Anteilseigner ist) und weil das Gericht generell nicht bereit ist, sich in die Entscheidungsfindung von Vorständen einzumischen. Das Gericht ging nicht auf den Inhalt der von ClientEarth vorgelegten Beweise oder ihr zentrales Argument ein, dass die Vorstandsmitglieder die Klimarisiken des Unternehmens falsch handhaben.
Die in London ansässige Kanzlei Pallas Partners hat ClientEarth bei der Klage pro bono vertreten. Die Kanzlei ist auf Rechtsstreitigkeiten mit hohem Risiko, internationalen Schiedsverfahren und Untersuchungen spezialisiert. Die Kanzlei führt innovative und komplexe Rechtsstreitigkeiten einschließlich Wertpapierstreitigkeiten im Vereinigten Königreich und in Europa durch. Pallas wurde im Februar 2022 gegründet.
Über ClientEarth – Anwälte der Erde
ClientEarth – Anwälte der Erde ist eine Nichtregierungsorganisation, die das Recht nutzt um die Erde und ihre Bewohner*innen zu schützen. Zusammen mit Bürger*innen und unseren Partnerorganisationen in Deutschland, Europa und weltweit arbeiten wir an Themen wie Klimawandel, Naturschutz und Umweltverschmutzung. Wir nehmen die Industrie und Regierungen in die Verantwortung, um das Leben auf der Erde und das Recht auf eine gesunde Umwelt zu schützen. Mit Büros in Europa, Asien und den USA setzen wir bestehendes Recht durch, unterstützen unterschiedliche Akteur*innen in Umweltverfahren und wirken bei der Gesetzgebung und der Entwicklung des Rechts mit. Wir streben eine nachhaltige und systematische Transformation an, denn eine Welt, in der Mensch und Planet gemeinsam gedeihen, ist nicht nur möglich – sie ist notwendig.